„Wir müssen Wertschöpfung neu denken“
Prof. Dr. Andrea Maier-Nöth: Nun könnte man meinen, die meisten Lebensmittel werden in Privathaushalten weggeschmissen. Tatsächlich trägt aber die Lebensmittelindustrie einen erheblichen Teil zur Verschwendung bei. Bei der Vermarktung beziehungsweise Verarbeitung von Lebensmitteln wird nur ein bestimmter Teil der eingesetzten Rohstoffe verwendet, der andere Rest landet im Müll ...
... und ist damit Abfall ohne Mehrwert?
Was nicht sein muss, denn diese Produkte können wertvolle nachhaltige Proteine oder andere Nährstoffe sowie Ballaststoffe enthalten. Man bezeichnet diese Produkte als Nebenströme, weil sie "neben" der beabsichtigten Produktion eines Lebensmittels anfallen. Nebenströme sind in vielen Fällen essbar oder können für die Produktion anderer Lebensmittel hilfreich sein. Hier müssen wir die Wortschöpfung neu denken.
Inwieweit geht das Konzept der Verwertung von Nebenströmen, das Sie auch im Rahmen Ihrer Forschungen an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen verfolgen, über das reine Food-Upcycling hinaus?
Food-Upcycling bewahrt Lebensmittel davor, als vermeintlicher Abfall in der Tonne zu landen. Im Rahmen unseres Projekts "Nebenströme" gehen wir deutlich darüber hinaus, denn wir wollen die Anbieter von Nebenströmen und potenzielle Nutzer hier in Baden-Württemberg zusammenbringen, um eine möglichst hochwertige Nutzung der anfallenden Wertstoffe zu finden. Gemeinsam mit den landwirtschaftlichen Betrieben wollen wir ein Farm-to-Fork-Konzept umsetzen, das örtliche Gegebenheiten wie Bodenbeschaffenheit und regionale Vermarktungspotenziale bei der Produktentwicklung miteinander vereint, um ungenutzte Nebenströme gar nicht erst entstehen zu lassen. Zudem soll ein Wertschöpfungsnetzwerk für bioökonomisches Wissen und – bisher nicht genutzte – biogene Rohstoffe aufgebaut werden. Wichtig hierfür ist auch der Austausch und die Kooperation mit verschiedenen Unternehmen und Organisationen im Sinne der Cross-lndustry-lnnovation.
Welche Knotenpunkte in der Wertschöpfungskette werden in dem Projekt adressiert?
Ziel des Projekts ist es, regionale Stoffkreisläufe zu schließen, die Entstehung von Lebensmittelabfällen zu reduzieren beziehungsweise Nebenströme zu nutzen, und die heimische vor allem nachhaltige und pflanzliche Proteinversorgung durch innovative Lösungsansätze zu optimieren. Außerdem soll durch nachhaltige Anbaumethoden die Biodiversität erhöht und die Verbraucherakzeptanz einer nachhaltigen Ernährung durch innovative Ernährungskonzepte und Lebensmittel gestärkt werden. Kombiniert wird die Fragestellung mit dem Trend, dass heimische pflanzliche Proteinquellen immer stärker nachgefragt werden.
Die Verwertung von Nebenströmen reduziert also nicht nur die Lebensmittelverschwendung. Sie kann auch zu einer gesunden Ernährung beitragen?
Absolut, da sie immer noch zahlreiche hochwertige Nährstoffe enthalten – beispielsweise pflanzliche Proteine. Konkret untersuchen wir deshalb Produkte, in denen Nebenströme aus proteinreichen Ackerbohnen, Lupinen und Hanf verarbeitet wurden. Gemeinsam mit den Projektpartnern konnten wir diese bodenverbessernden Nutzpflanzen an geeigneten Standorten anbauen, um daraus neue Produkte zu entwickeln. Im Projekt beschäftigt sich unser Team deshalb auch mit der Frage, wie Verbraucherinnen und Verbraucher Konzepte für nachhaltige Produkte und deren Nebenströme bewerten und welche Kriterien für sie kaufentscheidend sind.
Fehlt nicht oft auch das Wissen, wie viel "Wert" in den Resten tatsächlich noch steckt?
Nebenströme, die direkt in den Unternehmen anfallen, werden leider oft noch als "Abfall" deklariert. Damit sind sie für die Verwertung als Lebensmittel verloren. Zudem fehlen bislang weitestgehend Methoden und die nötige Transparenz zur Nutzbarmachung dieser nährstoffreichen Reststoffe, sodass diese als Tierfutter verfüttert oder in Biogasanlagen eingesetzt werden. Diese unzureichende Verwertung hat zur Folge, dass enorme Umsatzpotenziale nicht ausgeschöpft werden, bisweilen sogar Kosten für die Entsorgung der Reststoffe anfallen und die Möglichkeiten der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen, alternativen Proteinen und Nährstoffen ungenutzt bleibt. Darüber hinaus fördern das unzureichende Wissen für die Verarbeitung von Nebenströmen den ökologisch unausgewogenen Anbau anderer Rohstoffe wie Soja und Weizen, was wiederum negative Auswirkungen auf die Bodengesundheit hat.
Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen dürften unter diesen Gesichtspunkten an Grenzen stoßen, wenn es darum geht, ihre Stoffkreisläufe zu schließen und Reststoffe besser zu nutzen ...
Ja, denn die Nebenströme kleiner Produzenten erreichen oft nicht die Größenordnung, ab der sich die Verwertung durch einen großen Weiterverarbeiter lohnt. Letztlich sind die Margen in der Lebensmittelindustrie oft nicht ausreichend, um höhere Herstellungskosten ohne Preisanpassungen betriebswirtschaftlich rechtfertigen zu können. Da viele Nebenströme aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion zudem nur eine kurze Haltbarkeit haben und sich schnell zersetzen, sind Sammelsysteme mit langen Transportwegen kaum realisierbar. Deshalb werden viele nur auf niedrigem Nutzungslevel verwertet.
Und das heißt?
Unsere Verbraucherstudie hat gezeigt, dass die Potentiale für Nebenströme in der Region sehr hoch sind. Es muss jedoch eine Kommunikation zwischen Entstehungsort und Vermarktungsort bestehen. Online-Plattformen scheinen hier nicht effektiv zu sein, denn verschiedene Projekte sind mit deren Implementierung gescheitert. Der persönliche Kontakt über die direkte Ansprache ist hingegen ein zentraler Erfolgsgarant, der auf aktiver Informationssammlung und Vertrauensbildung basiert. Zudem ist unerlässlich, dass die Verwertung eines Nebenstroms ein passendes neues Produkt braucht, welches die Herstellungskosten deckt. Möglicherweise werden derartige Produkte auf Basis von Nebenströmen in Zukunft durch steuerliche Anreize oder reduzierte CO2-Kosten attraktiver. Am Ende aber ist vor allem die Verbraucherakzeptanz der wichtigste Aspekt.
Nebenströmen müssen zeitnah verarbeitet beziehungsweise haltbar gemacht werden. Sind hier neue Technologien und Prozesse gefordert?
Vor allem die betriebswirtschaftlich und energetisch umsetzbare Konservierung verderblicher Nebenströme direkt beim Erzeuger zählt zu den Hürden. Der kleine regionale Erzeuger hat weder die Kenntnisse noch die Finanzausstattung, um etablierte Technologie zur Konservierung wie Hitze, Hochdruck oder Filtration ökonomisch sinnvoll einzusetzen zu können. Dafür braucht es innovative Ideen und Lösungen, die in Forschungsprojekten getestet und bewertet werden müssen. Außerdem müssen aus den konservierten Rohstoffen der Nebenströme möglichst zeitnah die passenden Endprodukte generiert werden.
Woran hapert es bislang?
Aktuell fehlt es vor allem an intelligenten Ideen zur ökonomisch umsetzbaren Haltbarmachung oder Aufarbeitung von Nebenströmen – und zwar dort wo sie anfallen. Darauf aufbauend könnten ökologisch sinnvolle Sammelsysteme etabliert werden. Die große Vielfalt der nicht genutzten Nebenströme erfordert eine große Vielfalt an innovativen, produktorientierten und individuellen Lösungen.
Wie lassen sich die Herausforderungen auf dem Weg zur Markteinführung am besten bewältigen?
In unserem Projekt haben wir gesehen, dass eine zielgerichtete Entwicklung funktioniert, wenn alle Partner von Anfang an ihre Expertisen einbringen. Angefangen bei der Mikrobiologie, welche sich vorrangig mit der Stabilisierung der Nebenströme auseinandersetzt, die Analytik zur Auswertung des Nährstoffgehalts, die Lebensmitteltechnologie, um passende Verarbeitungsmethoden zu benennen und schlussendlich die Verbraucherforschung, um die Produkte konsumentenorientiert zu entwickeln. Die begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen lassen sich dann für die erfolgversprechenden Forschungs- und Entwicklungsansätze bündeln und mit maximaler Effizienz einsetzen.
Erfolgreiche Beispiele gib es schon länger. Mit Pektin als Nebenprodukt der Apfelsaftproduktion steht ein Geliermittel zur Verfügung, das aus dem Alltag in der Lebensmittelindustrie nicht mehr wegzudenken ist ...
Dank Upcycling von Nebenströmen wird das Angebot an natürlichen Lebensmittelzusätzen umfassender. Auch Alternativen zu tierischen Produkten etablieren sich durch Nebenprodukte, so ist beispielsweise auf Aquafaba zu verweisen, dem Koch-Sud von gegarten Kichererbsen, welcher als Eiweißersatz genutzt werden kann. Was wir festgestellt haben, ist, dass der Sud anderer Leguminosen ebenfalls optimale schaumbildende Eigenschaften besitzt und das Potenzial für weitere Eiweißalternativen hoch ist.
Was muss getan werden, um weitere vielversprechenden Nebenprodukte zu etablieren?
Grundsätzlich muss der Fokus auf der Stabilisierung und einer möglichst hochwertigen Verwertbarkeit der Nebenströme liegen. Diese weisen oftmals unterschiedliche physikochemische Eigenschaften und Verderblichkeitsrisiken auf. Es kann sich um flüssige Proteinlösungen wie Milch, trockene, rieselfähige Produkte wie Kleie oder pastös-feste Ölpresskuchen und halbtrockene Obst- und Kartoffelreste handeln. All diese Nebenströme erfordern verschiedenste Technologien und Prozesse für die Haltbarmachung, wobei sowohl seit Jahren bewährte als auch neuste Verfahren Einsatz finden.
Keine einfache Aufgabe ...
.... aber es lohnt sich, wie unser Projekt zeigt! Wir haben einen für kleine Betriebe nutzbaren Keim- und Trocknungsschrank entwickelt. Er verfügt über das Potenzial, auch kleine Chargen lebensmittelrechtlich konform zu produzieren und in geringen Mengen anfallende Nebenströme zu stabilen Produkten zu verarbeiten. Dennoch sollte immer auch eine stoffliche Verwertung außerhalb der Lebensmittelkette, beispielsweise für Biopolymere, Textilien oder Reinigungsmittel in Betracht gezogen werden, wenn der Aufwand zur Stabilisierung eines Nebenstroms zu hoch ist. Durch die Einsparung fossiler Ressourcen kann sich so ein wichtiges Ersatzprodukt für die ökologische Kreislaufwirtschaft ergeben.
Wie lassen sich die Nebenströme, die bereits am Markt verfügbar sind, für alle Beteiligten der Wertschöpfungskette "sichtbar" machen?
Es gibt bereits Initiativen, die Nebenströme in Datenbanken erfassen. Dadurch können interessierte Nutzer abschätzen, ob sich eine Produktentwicklung für einen Nebenstrom lohnt. Die Reproduzierbarkeit der Qualität eines Nebenstroms und die Kontinuität der anfallenden Mengen müssen aber für jedes Produkt noch individuell festgestellt werden. Die Kosten für Analysen, mikrobiologische Bewertung und den Arbeitsaufwand darf man nicht unterschätzen. Wir hatten uns bei Projektanträgen mit Nebenströmen aus der Produktion von Pflanzenölen, Obstsäften, Kartoffelprodukten und Tofu beschäftigt. Es gibt aber sicher noch viele Nebenströme mit großen Potentialen, die wir noch nicht im Fokus haben.
Wie schätzen Sie die rechtliche Situation ein? Stößt die Entwicklung solcher Produkte aufgrund gesetzlicher Bestimmungen auf Hindernisse?
Eine Herausforderung bei Projekten mit vielen verschiedenen regionalen Partnern ist natürlich die Sicherstellung der Lebensmittelqualität und -sicherheit. Gerade die kleinen Anbieter brauchen viel Unterstützung, weil bei ihnen die Sorge besteht, die Vorgaben des Lebensmittelrechts möglicherweise falsch zu verstehen oder nicht umsetzen zu können. In zukünftigen Projekten sollte deshalb ein Schwerpunkt darin liegen, kleine Betriebe frühzeitig bei Produktentwicklung zu unterstützen, damit von Anfang an lebensmittelrechtliche Vorgaben berücksichtigt werden – sonst scheitern die innovativen Produkte am Ende an den Kosten und dem Aufwand, die eine nachträgliche Anpassung an eine lebensmittelrechtlich konforme Produktion erfordern.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Konsumenten mit ins Boot zu holen und ihn mit Nebenströmen vertraut zu machen, damit die Produkte später zur Markteinführung eine gesteigerte Akzeptanz erfahren ...
Dabei ist es wichtig nach außen hin schon während der Produktentwicklung Kommunikationsarbeit in der Öffentlichkeit zu leisten und dem Konsumenten den Mehrwert von Nebenstrom-Produkten und explizit auch von pflanzlichen Proteinquellen nahezubringen. Hierbei können verschiedenste Medien und Kampagnen eingesetzt werden. Aber auch eine umfassende Ernährungsberatung kann die Aufklärung beinhalten, sodass Ärzte und Ernährungsberater das Wissen an den zukünftigen Konsumenten heranbringen können.
Stichwort Zertifizierung: Braucht es einheitliche Label und Kriterien für die Rohstoffe und Kreislaufkonzepte, um das Vermarktungspotenzial zu heben?
Dazu haben wir noch keine abschließende Meinung. Zertifizierungen sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erleichtern sie den Austausch von Nebenströmen und sichern deren Qualität. Andererseits entstehen dadurch auch Kosten, die die Produkte am Ende verteuern. Viele Zertifikate, die am Markt sind, verwirren die Verbraucherinnen und Verbraucher vielleicht mehr als sie ihm helfen.
Prof. Dr. Andrea Mair-Nöth von der Hochschule Albstadt-Sigmaringen will Unternehmen eine möglichst hochwertige Nutzung der anfallenden Nebenströme erschließen – ganz im Sinne der regionalen Kreislaufwirtschaft.
Prof. Dr. Andrea Mair-Nöth
Hochschule Albstadt-Sigmaringen
Prof. Dr. Andrea Mair-Nöth
Hochschule Albstadt-Sigmaringen
Prof. Dr. Andrea Mair-Nöth
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