Insekten als neuartige Lebensmittel
Herr Prof. Dr. Comans, seit einigen Jahren werden Insekten als eine Alternative zum Rind- und Schweinefleisch beworben. Bisher trauen sich nur wenige Unternehmen oder Startups an dieses Thema. Warum?
Ein wesentlicher Grund ist der Umstand, dass Lebensmittelinsekten seit Anfang 2018 mit Inkrafttreten der Novel Food-Verordnung (EU) 2015/2283 als neuartige Lebensmittel gelten, die eine Zulassung brauchen. Anders als "konventionelle, nicht neuartige Lebensmittel", dürfen diese erst nach Durchlaufen eines aufwendigen Zulassungsverfahrens in den Verkehr gebracht werden. Entsprechende Anträge müssen bei der EU-Kommission eingereicht werden. Hinzu kommt, dass es bisher nur wenige Hersteller für Lebensmittelinsekten in Deutschland und der EU gibt, weshalb häufig auf Bezugsquellen in Drittländern zurückgegriffen werden muss, was zusätzlichen Aufwand und gerade für junge Unternehmen ein erhöhtes Risiko darstellen kann. Ein weiterer limitierender Faktor ist die noch rudimentäre Rechtslage für die Zucht und Verarbeitung von Insekten, die für junge Unternehmen ohne fundierte Kenntnisse erhebliche Risiken darstellen kann.
Weltweit ernähren sich mehr als zwei Milliarden Menschen von Insekten, so die Expertenschätzungen. Was in Asien ein durchaus massentauglicher Ernährungsstil ist, klingt hierzulande für viele Verbraucher eher nach einer Mutprobe, wenn man aktuellen Umfragen Glauben schenkt ...
Lebensmittel aus Insekten sind in Deutschland aktuell Nischenprodukte. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher sind (noch) nicht dazu bereit, Insekten als Lebensmittel oder Proteinquelle im Rahmen der täglichen Ernährung zu akzeptieren – insbesondere dann, wenn es sich um Produkte handelt, die äußerlich noch als Insekt erkennbar sind. Aber auch in Fällen, in denen Verarbeitungserzeugnisse aus Insekten zum Einsatz kommen, stoßen die Produkte nicht flächendeckend auf Zustimmung. Ein Sachverhalt, der sich auch im ersten Quartal des Jahres 2023 in zahlreichen Anfragen auf www.lebensmittelklarheit.de widerspiegelt.
Welche Aspekte stehen auf dem Verbraucherportal dabei im Vordergrund?
Zahlreiche Verbraucher haben um Auskunft ersucht, wie Insekten in Lebensmitteln, in zusammengesetzten Zutaten, in lose abgegebener Ware oder in Zusatzstoffen kenntlich gemacht werden, um diese beim Kauf zu meiden. Ob ein Produkt Insektenbestandteile enthält, erfahren Verbraucher beim Lesen des Zutatenverzeichnisses. Trotz all dieser limitierenden Faktoren wurden in den vergangenen Jahren einige Verfahren für die Zulassung verschiedener Insekten als neuartiges Lebensmittel initiiert und zwischenzeitlich auch Zulassungen erteilt ...
... wozu der getrocknete gelbe Mehlwurm zählt, der als erstes Lebensmittelinsekt im Mai 2021 die Zulassung erhalten hat.
Die getrocknete Larve des Mehlkäfers Tenebrio molitor darf als Ganzes oder gemahlen verkauft werden. Außerdem kann sie als Zutat bis zu einem Anteil von zehn Prozent in verschiedenen Lebensmitteln, zum Beispiel Nudeln oder Keksen, eingesetzt werden. Allerdings: Die Zulassung besteht aufgrund zugrundeliegender geschützter wissenschaftlicher Daten für die Dauer von fünf Jahren zunächst nur für das antragstellende französische Unternehmen.
Die Zulassung der Insekten als Lebensmittel gilt nur für die Antragsteller?
Ja, sofern dieser im Rahmen des Zulassungsverfahrens den Schutz der bei der Zulassung verwendeten wissenschaftlichen Daten beantragt hat und der Datenschutz gewährt wird, darf dieser das neuartige Lebensmittel für fünf Jahre exklusiv vertreiben. Zwei weitere Unternehmen, die Insekten in der EU in Verkehr bringen dürfen, stammen aus den Niederlanden, eines aus Vietnam.
Für welche Insekten hat die Europäische Kommission Zulassungen erteilt?
Mit Stand August 2023 wurden insgesamt vier Insektenarten als Novel Food zugelassen. Hierbei handelt es sich um Acheta domesticus, auch Hausgrille oder auch Heimchen genannt, Larven des Getreideschimmelkäfers von Alphitobius diaperinus, die Wanderheuschrecke Locusta migratoria sowie die von Ihnen angesprochenen getrockneten Larven des Mehlkäfers. Die Zulassungen beziehen sich auf verschiedene Formen – wie ganze Insekten, gefrorene beziehungsweise getrocknete Larven oder aus Insekten gewonnenes entfettetes Pulver – sowie auf die Verwendung in bestimmten Lebensmitteln.
Gibt es weitere Anträge auf Zulassungen?
Darüber hinaus sind weitere Anträge anhängig. Diese betreffen teilweise andere Insektenarten, wie die Schwarze Soldatenfliege Hermetia illucens sowie die Drohnenbrut, also die männlichen Puppen, der Honigbiene Apis mellifera. Andere Anträge zielen darauf ab, bereits zugelassene Insekten oder daraus gewonnene Erzeugnisse in anderen Formen oder ohne Datenschutz zuzulassen, damit nicht nur der Antragsteller ein fünfjähriges exklusives Vermarktungsrecht erhält.
Grundlage für die Entscheidungen ist eine Risikobetrachtung, welche die EFSA, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, durchführt. Welche Kriterien werden geprüft?
Der Katalog ist sehr umfassend. Neben der konkreten chemischen, mikrobiologischen und physikalischen Beschaffenheit des Produktes wird auch dessen Herstellungsprozess beleuchtet. Es müssen Angaben dazu erfolgen, in welcher Menge der Antragsteller gedenkt, das neuartige Lebensmittel zum Verzehr anzubieten. Die Unbedenklichkeit der vorgeschlagenen Verzehrmengen muss bei Bedarf mit geeigneten toxikologischen Studien belegt werden. Weiterhin muss ein Vorschlag für die Kennzeichnung des neuartigen Lebensmittels vorgelegt werden.
Eine weitere Hürde, die es zu meistern gilt ...
Ja, hierbei wird auch geprüft, ob das neuartige Lebensmittel ohne eine Mengenbeschränkung verzehrt werden kann oder ob die Festlegung einer Tageshöchstdosis erfolgen muss. Ebenso müssen Informationen über Nährwerte sowie zu einem möglichen Allergenpotenzial bereitgestellt werden. Diese und weitere Informationen sind anhand spezifischer formaler Vorgaben aufzubereiten und mit umfassenden Literaturhinweisen der EFSA zur Prüfung zur Verfügung zu stellen.
Wie geht es danach weiter?
Erst nachdem die Unterlagen umfassend geprüft wurden, etwaig bestehende Fragen zur Zufriedenheit der EFSA beantwortet und die Gesamtdatenlage ausgewertet wurde, gibt die EFSA eine Empfehlung ab, ob und unter welchen Bedingungen das neuartige Lebensmittel zugelassen werden soll. In diesem Rahmen gibt die EFSA auch eine Empfehlung ab, ob eine Höchstmenge erforderlich ist, wie das neuartige Lebensmittel bezeichnet werden soll und ob es gegebenenfalls zusätzlicher Warnhinweise bedarf.
Beim Verzehr von Insekten denken viele Verbraucher automatisch an allergische Reaktionen. Was muss hier beachtet werden?
Lebensmittelinsekten und daraus hergestellte Verarbeitungserzeugnisse stellen gemäß Anhang II der Lebensmittelinformations-Verordnung (EG) Nr. 1169/2011 gesetzlich gesehen zunächst einmal keine Allergene dar, die im Zutatenverzeichnis hervorgehoben werden müssen. Im Rahmen der Risk Opinion (Risk profile related to production and consumption of insects as food and feed) vom 5. Oktober 2015 hat die EFSA festgestellt, dass Menschen, die allergisch auf Krebstiere und daraus gewonnene Erzeugnisse sowie gegen Hausstaubmilben sind, auch auf Insektenprotein allergisch reagieren können. Es wurden daher weitere Nachforschungen zu dem allergenen Potenzial von Insekten angeregt. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden im Rahmen der einzelnen Zulassungen der Insekten als neuartige Lebensmittel berücksichtigt.
Was bedeutet das konkret für die Kennzeichnung der Produkte?
Vorgesehen ist einerseits, dass die Kennzeichnung der Lebensmittel, denen beispielsweise die getrockneten Larven von Tenebrio molitor hinzugegeben werden, mit einem entsprechenden Warnhinweis versehen sein müssen, dass diese Zutat bei Allergien gegen Krebstiere oder Weichtiere und ihre Erzeugnisse sowie gegen Hausstaubmilben allergische Reaktionen hervorrufen kann. Der entsprechende Hinweis muss in unmittelbarer Nähe zum Zutatenverzeichnis angebracht werden.
... was allein aber noch nicht ausreicht?
Nein, darüber hinaus ist in den Zulassungen der Insekten und damit auch in der Unionsliste der zugelassenen neuartigen Lebensmittel vorgesehen, dass diese eine eindeutige und in der jeweiligen Zulassung festgelegte Bezeichnung tragen müssen, zum Beispiel "Getrocknete Larve von Tenebrio molitor (Mehlkäfer)" oder "Acheta domesticus (Hausgrille, Heimchen), getrocknet".
Darüber hinaus werden im Zulassungsverfahren Kriterien für die sichere Verarbeitung der Insekten festgelegt. Um welche Aspekte handelt es sich dabei?
Im Rahmen des Zulassungsverfahrens werden, wie bereits erläutert, zahlreiche Faktoren abgeprüft. Bestandteil der Prüfung ist auch das konkrete Herstellungsverfahren, mit dem die Lebensmittelinsekten verarbeitet werden. Geprüft und bewertet werden beispielsweise umfassende Parameter wie Temperatur, Zeit oder Druck. Darüber hinaus werden auch diverse chemische Parameter, wie Protein-, Fett- und Feuchtigkeitsgehalt, Schwermetalle, Mykotoxine sowie sonstige mikrobiologische Untersuchungen unternommen. Die Parameter, die für die wesentliche Beschaffenheit des Produktes verantwortlich sind, werden dann in die Zulassung des neuartigen Lebensmittels übernommen und in der Verordnung (EU) 2017/2470 Tabelle 2 angegeben.
Gilt es besondere Hygienestandards einzuhalten?
Nein, weitergehende Hygienestandards oder konkrete Anforderungen an die Verarbeitung des Erzeugnisses werden nicht festgelegt. Die Hygienestandards, die es im Rahmen der Herstellung von Lebensmittelinsekten zu beachten gilt, ergeben sich aus der Lebensmittelhygiene-Verordnung (EG) Nr. 852/2004 sowie der Verordnung (EG) Nr. 853/2004, die Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs.
Sie sprachen es bereits an: Die Zulassung der vier Insekten gilt zunächst für die Antragsteller jeweils für die Dauer von fünf Jahren. Was bedeutet das für Lebensmittelhersteller, die selbst entsprechende Produkte mit den zugelassenen Insekten in den Markt bringen wollen?
Andere Hersteller dürfen die Produkte in dieser besonderen Phase, die dem Datenschutz geschuldet ist, nur dann vertreiben, wenn einerseits sichergestellt ist, dass das neuartige Lebensmittel die spezifischen Beschaffenheitsmerkmale, die in der Unionsliste festgelegt sind, einhält und anderseits die Zustimmung des Zulassungsinhabers für den Vertrieb erteilt wurde. Alternativ ist eine Vermarktung auch dann zulässig, wenn ein anderer Antragsteller die Zulassung für das gleiche neuartige Lebensmittel erhält, ohne dass dieser im Rahmen des Zulassungsverfahrens Bezug auf die eigentumsrechtlich geschützten wissenschaftlichen Erkenntnisse oder wissenschaftlichen Daten nimmt.
Welche Optionen bieten sich Lebensmittelproduzenten damit letztlich in der Praxis?
Unternehmen, die sich für die Herstellung und Vermarktung entsprechender Produkte interessieren, müssen entscheiden, ob sie ebenfalls einen – kostenintensiven – Antrag auf Zulassung desselben neuartigen Lebensmittels stellen, um eine eigene Zulassung zu erhalten, oder sich die Genehmigung des derzeitigen Zulassungsinhabers einholen, die sich dieser in der Regel vergüten lässt. Anderenfalls bleibt nur die Möglichkeit, die Datenschutzperiode von fünf Jahren abzuwarten. Ist diese abgelaufen, kann jedes Unternehmen von der Zulassung Gebrauch machen.
Im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt sind Insekten in Europa noch nicht Teil der üblichen Ernährung. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die Situation etwa in Asien und in den USA da?
In den USA wurden bereits Lebensmittel aus Insekten vermarktet, bevor die Thematik noch unter Geltung der alten Novel Food-Verordnung (EG) Nr. 258/97 in Europa in den Fokus gerückt ist. Die rechtlichen Vorgaben für die Verwendung von Lebensmittelinsekten in den Vereinigten Staaten sind mir im Detail nicht bekannt. Fakt ist jedoch, dass Insekten im asiatischen Raum seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, ein fester Bestandteil der Ernährung sind.
Welche Möglichkeiten bieten sich für deutsche Hersteller, entsprechende Produkte in diese Märkte zu exportieren?
Um Lebensmittelinsekten beispielsweise in die USA oder nach Asien exportieren zu können, ist es in der Regel erforderlich, dass sich die exportierenden Unternehmen speziell hierfür zulassen müssen oder bei den zuständigen Drittlandbehörden registriert sein müssen. Darüber hinaus müssen die exportierten Produkte den rechtlichen Anforderungen des Ziellandes genügen. Dies ergibt sich auch aus Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Sofern in dem Drittland, in das die Waren exportiert werden sollen, keine spezifischen gesetzlichen Anforderungen bestehen und darüber hinaus auch keine bilateralen Abkommen vorhanden sind, müssen die ausgeführten Lebensmittel den einschlägigen europäischen lebensmittelrechtlichen Vorgaben genügen.
Herr Prof. Dr. Clemens Comans
Herr Prof. Dr. Clemens Comans
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