Potenziale der Blockchain im Food-Sektor
Die Blockchain. Oder: das Kerbholz 2.0
Die Blockchain basiert auf der Distributed Ledger Technologie. Ledger steht dabei für das Hauptbuch oder die Kladde, in der Buchhalter gewissenhaft alle Geschäftsfälle festhalten. „Was da drinsteht, wird als die Wahrheit angesehen“, sagt Markus Jostock. Doch lange vor der Kladde setzten unsere Altvorderen auf eine andere Weisheit – das es Wahrheit nur zu zweien gibt. Um ihre sensiblen Daten wie Schuldenstände, Steuerzahlungen oder Produktionszahlen zwischen zwei Parteien zu dokumentieren, erfanden sie in grauer Vorzeit das Kerbholz. Das Prinzip dabei ist einfach wie genial. In ein längliches Stück Holz werden in Querrichtung strichhafte Symbole eingeritzt. Sie zählen die geschuldeten Taler, die entrichteten Steuern oder das geförderte Erz. Dann wird das Holz der Länge nach entzweit. Und jede Partei bewahrt eine Hälfte auf. Steht der Zahltag vor der Tür, werden beide Hälften wieder aneinandergelegt. Eine Manipulation an einer von beiden würde dabei sofort auffallen. Das System war so effektiv, dass Kerbhölzer noch bis ins 19. Jahrhundert verbreitet waren.
Die moderne Version heißt Blockchain und holt das Kerbholz in die digitale Welt. Denn damit lassen sich zum Beispiel Token erstellen. Das sind digitale Schnipsel, die etwas zählen können. Bitcoins zum Beispiel. Oder Schrauben, die eine Maschine ausstößt. Oder Tabletten. „Eine Blockchain zeichnet solche Einträge auf einer sehr sicheren und resilienten Weise auf“, sagt Markus Jostock. „Sie besteht aus einem Netzwerk von Computern, die alle parallel eine permanente und unveränderbare Liste dieser Einträge erzeugen.“ Das Kerbholz hat hier also nicht nur zwei, sondern sehr viel mehr Teile, die man miteinander vergleichen kann. Und die Blockchain kann noch mehr. „Sie weiß immer, wer Daten gesendet hat. Denn wenn ich etwas in die Blockchain schreibe, muss ich mich identifizieren“, erklärt der IT-Experte. „Außerdem zeichnet sie auf, wann Daten geändert wurden. Sie versieht diese also mit einem Zeitstempel“, fährt er fort. „Und die Blockchain vergisst nicht. Das heißt, niemand kann einen Eintrag nachträglich löschen oder mit manipuliertem Zeitstempel einfügen.“
Digitaler Fingerabdruck für Dokumente
Doch wie kann diese Technologie helfen, die Food Supply Chain effizienter zu machen? „Vorsichtig ausgedrückt, spielt das Thema Blockchain im Lebensmittelbereich noch eine sehr untergeordnete Rolle“, weiß Markus Jostock aus Erfahrung. „Wie jede neue Technologie kann sie sich nur durchsetzen, wenn sie mehr Geld in die Kassen der Unternehmen spült. Oder Ärger vermeidet.“ Gerade mit Blick auf Letzteres sieht der Experte ein erstes Anwendungsfeld deshalb in der Lebensmittelsicherheit. Wegen des regulatorischen Drucks.
„Ähnlich wie im Pharmabereich muss hier gewissenhaft dokumentiert werden“, sagt er. Prüft eine regulierende Stelle dann die Dokumente – zum Beispiel, um eine Entscheidung zu fällen oder um einen Lebensmittelskandal aufzuklären – steht aber immer auch eine entscheidende Frage im Raum: Sind die vorgelegten Dokumente tatsächlich noch in ihrer ursprünglichen Form. Oder wurden sie eventuell in der Zwischenzeit manipuliert. „Hierfür bieten wir unseren Kunden einen interessanten Ansatz“, erklärt Markus Jostock. „Wir erstellen einen digitalen Fingerabdruck des entsprechenden Dokuments – zum Beispiel eines Laborberichts – und speichern diesen in der Cloud.“ Das funktioniert durch ein mathematisches Verfahren, das aus den Daten des Dokuments einen bestimmten Zahlenwert errechnet. Nur dieser wird dann in der Blockchain gespeichert. Der Laborbericht verlässt das Unternehmen nicht. „Bei einer Prüfung wird der Behörde dann der digitalisierte Laborbericht vorgelegt, in ihrem Beisein erneut der digitale Fingerabdruck berechnet und dieser dann mit dem in der Blockchain verglichen.“ Stimmen beide überein, kann eine nachträgliche Manipulation des Dokuments ausgeschlossen werden. Denn die Blockchain vergisst nicht. Und wenn das Dokument am Rechner frisiert wurde? Dann ergibt eine erneute Berechnung auch einen neuen Fingerabdruck. „Auf diese Weise können Unternehmen effizient digitalisieren und ihre Dokumentationspflichten erfüllen.“
CO2-Fußabdruck – aus der Maschine in die Blockchain
„Für die Blockchain sehen wir große Chancen – und zwar beim Thema Nachhaltigkeit.“ Denn hier könnte bald recht großer Druck aufkommen – und zwar in Form der Green Claims Directive der Europäischen Union. Zu Erinnerung: Die EU bereitet gerade eine Richtlinie vor, nach der Unternehmen alle Behauptungen zum Umwelteinfluss ihrer Produkte auch beweisen müssen. Egal ob „CO2-freier Versand“ oder „klimaneutrale Produktion“ – wer in Zukunft damit werben will, muss es belegen. „Der CO2-Fußabdruck eines Produktionsschrittes lässt sich aber schon heute sehr gut in der Maschine ermitteln“, holt Markus Jostock aus. „Denn die Sensoren erfassen ja bereits, wie viel Strom, wie viel Gas, wie viel Wasser die Bearbeitung verbraucht hat.“ Daraus ein CO2-Äquivalent berechnen zu lassen, sei nicht schwer. Und das ließe sich in der Blockchain ablegen. „Brauch ich dazu die Blockchain? Nicht a priori“, sagt er. „Aber wenn ich den Fußabdruck in meinem ESG-Report berechne, dann habe ich Auditoren. Und denen gegenüber muss ich die Daten auch verifizieren können.“ Und was liegt da näher als manipulationssicher abgelegte Daten der Sensorik? „Plötzlich habe ich eine digitale Infrastruktur, die den Auditierungsprozess für mich günstiger macht, als es die klassische Papiertechnik je sein kann. Und dann lohnt sich die Blockchain auch finanziell.“
Öffentlich oder doch lieber privat?
Sensordaten, Laboranalysen, Produktionsparameter, Prüfprotokolle. Und das alles in der Blockchain? Spätestens jetzt dürften bei den Verantwortlichen die Alarmglocken schrillen. Setzt die Blockchain nicht auf ein weltweites Netzwerk, auf das jeder zugreifen kann? Liefere ich dann nicht auch meinem Mitbewerber tiefe Einblicke in mein Unternehmen frei Haus? Und was ist mit dem hohen Energieverbrauch? Führe ich da meine Nachhaltigkeitsbemühungen nicht ad absurdum? „Für Blockchains der ersten und zweiten Generation wie Bitcoin und Ethereum trifft das tatsächlich zu“, erklärt Markus Jostock. „Das sind Public Blockchains. Jeder kann mitmachen.“ Damit das System trotzdem nicht manipuliert werden kann, wurde Energie als „Währung“ eingefügt. „Wer etwa eine Transaktion in die Bitcoin-Blockchain schreiben will, muss ein energieaufwendiges mathematisches Rätsel lösen“, sagt er. „Um dieses Proof-of-Work-Verfahren auszuhebeln, müsste man gigantische Rechenleistung aufbringen.“ Für Industrieanwendungen sind solche Protokolle ungeeignet und auch völlig unnötig. „Wir setzen auf die dritte Generation der Blockchain-Technologie-Protokolle. Und auf die Private-Blockchain.“ Das heißt, eine energieaufwendige Zugangskontrolle ist nicht nötig. Denn es handelt sich um ein privates Netzwerk. Mitmachen kann nur, wer sich über sein User Account eindeutig identifiziert. „Für den Nutzer ist es einfach nur eine Softwarelösung, die in der Cloud läuft“, erklärt der IT-Experte. „Betrieben wird sie von Dienstleistern wie uns.“ Freier Zugriff ist also von vornherein ausgeschlossen. Und energiefressende Rätsel braucht es nicht. Dafür lassen sich solche Blockchain-Anwendungen dann an verschiedene Branchen anpassen. Der Food-Sektor wird mit anderen Lösungen arbeiten als die Pharmazie. Die Finanzwelt mit anderen als der Maschinenbau. Da ist sich Markus Jostock sicher. „Es wird eine Multi-Chain-Zukunft geben. Mehrere Blockchain-Netzwerke mit unterschiedlichen Blockchain-Technologien werden parallel existieren. Jede mit ihren spezifischen Vor- und Nachteilen. Und sie werden interoperabel sein.“