Wie könnte der Food-Sektor 2035 aussehen?
Es herrscht Bewegung im Food-Sektor. Nachhaltigkeit, alternative Proteine, vegane Ernährung, Food Circles – das sind nur einige der Buzzwords, die zurzeit Hochkonjunktur haben. Doch was davon gleicht eher dem sprichwörtlichen Strohfeuer und was könnte ein Trend sein, der den Food-Markt 2035 maßgeblich bestimmt? Antworten darauf hat das FOX-Projekt gefunden und dazu zwei Studien veröffentlicht.
Food processing in a Box, kurz FOX, nennt sich ein Zusammenschluss von 25 Akteuren aus der Lebensmittelbranche. Gesundheit und Nachhaltigkeit sind die Leitmotive des EU-Horizont 2020-Projekts, das sich auf die Suche nach Lösungsansätzen gemacht hat, die lokale Lebensmittelverarbeitung in den Mittelpunkt zu rücken. Einer der Partner ist das Competence Center Foresight des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe. Dessen Forscherinnen und Forscher haben nach Trends gesucht, die schon heute erkennbar sind und den Food-Sektor im Jahr 2035 vielleicht maßgeblich bestimmen könnten. Von mehr als 100 Trends konnten 50 überzeugen – 15 davon hat das Forschungsteam als besonders wichtig erachtet. Doch wie lässt sich aus den gesammelten Trends auf die Zukunft des Food-Sektors schließen? Das sollten drei Szenarien beantworten, die jeweils von einem großen Akteur getrieben sind und ein unterschiedliches Bild der Zukunft malen.
Top-Trends für 2035 – eine Auswahl
Als einen dieser wichtigen Trends hat das ISI-Team die lokalen Lebensmittelkreise identifiziert. Regionalität steht dabei in allen Punkten des Lebensmittelkreislaufs im Vordergrund. Während sie Frische, Rückverfolgbarkeit und geringere Umweltbelastung als Vorteile dieses Trends sehen, zählen sie unter anderem das je nach Saison eingeschränkte Angebot zu den Nachteilen. Mit Blick auf Online-Hofläden, Lebensmittelkisten oder Einkaufsgemeinschaften sehen sie bereits heute ein bestehendes Interesse vonseiten der Landwirte und Konsumenten gleichermaßen. Aus Sicht der Forscher sind es gerade solche Lebensmittelkreise, die die heutigen zentralen Strukturen aufbrechen und in ein dezentrales System überführen könnten.
In diese Richtung zeigen noch weitere Trends, die sie für wichtig erachten. Sharing Economy ist hier ein Stichwort. Beim Food-Sharing zum Beispiel werden überschüssige Lebensmittel mit anderen geteilt und in Gemeinschaftsküchen oder Essensgemeinschaften wird zusammen gekocht und gegessen. Während sich dabei die Frage nach der Kontrolle von Gesundheitsstandards als problematisch erweisen könnte, zählt die effiziente Nutzung von Lebensmitteln und die Vermeidung von Food Waste zu den positiven Aspekten dieses Trends.
Gerade Letzteres halten die Autoren für so wichtig, dass sie darin einen eigenen Trend sehen. Um die jährlich rund 1,3 Milliarden Tonnen Food Waste zu verringern, sei eine Kombination verschiedenster Aktivitäten notwendig. An erster Stelle steht das öffentliche Bewusstsein für dieses Problem. Der sich dadurch aufbauende gesellschaftliche Druck beeinflusst in einigen Ländern schon heute die Gesetzgebung und lässt darüber hinaus Produzenten, Händler und Konsumenten auch proaktiv handeln.
Technologische Trends
Um unter anderem die Folgen des Klimawandels abzumildern und die Nachhaltigkeit zu erhöhen – was beides im Übrigen ebenfalls als Trend identifiziert wurde –- hat das ISI-Team verschiedene technologische Trends identifiziert, denen es bis 2035 große Potenziale einräumt. Die Präzisionslandwirtschaft zum Beispiel, bei der durch Prozessoptimierung der Output erhöht und gleichzeitig der Einfluss auf die Umwelt verringert wird. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Blockchain. Und auch neuartige Formen der Lebensmittelproduktion fallen in diesen Bereich. Schlagworte sind hier zum Beispiel Vertical Farming oder Aquaponik. Gerade beim Letztgenannten sehen die Autoren ein großes Wachstumspotenzial.
Nicht nur die Art der Produktion, sondern auch der Wandel in den Präferenzen der Konsumenten taugt für einige der Top-Trends. „Kochen –- vegan – glutenfrei“ nennen die Studienautoren einen davon. Der Verzicht auf tierische Lebensmittel und die Vermeidung des Weizenklebers Gluten auch ohne medizinische Indikation stehen hier im Mittelpunkt. Produzenten, die das berücksichtigen, winkt nach Meinung der Studienautoren ein steigender Absatzmarkt. In eine ähnliche Richtung geht der Trend „Alternative Proteine“. Ob aus Pflanzen, Insekten oder dem Bioreaktor – neuartige Quellen sollen 2035 dazu beitragen, dass die wachsende Weltbevölkerung einerseits ausreichend mit Proteinen versorgt werden kann und andererseits die Auswirkungen auf die Umwelt in Grenzen gehalten werden.
Drei Szenarien für den Food-Sektor 2035
Trends zu identifizieren und zu analysieren ist die eine Sache. Doch wie wird er nun aussehen, der Lebensmittelsektor im Jahr 2035 in Europa? Auch hierauf wollte das Forschungsteam aus Karlsruhe eine Antwort finden. Allerdings ohne einen Blick in die berühmte Glaskugel zu werfen. Da es viel zu komplex sei, die Entwicklung des Marktes auf dieser Zeitskala mit akzeptabler Präzession vorherzusagen, haben sich die Forscher für drei Szenarien entschieden. Allen gemein ist die Prämisse, dass es kein „weiter so“ geben wird. Der große Unterschied liegt vielmehr in der Frage, wer die Veränderungen vorantreibt und letztendlich die Regeln für den Lebensmittelmarkt im Jahr 2035 vorgibt.
Auf Basis der 50 identifizierten Trends entwickelten die Forscher deshalb 18 Schlüsselfaktoren entlang der Wertschöpfungskette. Für sechs von diesen trafen sie verschiedene Annahmen, wie sich diese in Zukunft entwickeln könnten und entwickelten daraus drei Szenarien. Diese wurden dann mit den restlichen 12 und dem Input der Partner des FOX-Projektes verfeinert.
Die Schlüsselfaktoren im Überblick
Top 6
• Wertschätzung von Produkten, die Ökosystemleistungen fördern
• Zentralisierungsgrad der Lebensmittelproduktion
• Kaufverhalten im Zusammenhang mit Lebensmitteln
• Maßnahmen zur Reduzierung des Klimawandels im Lebensmittelsektor
• Öffentliche und private Investitionen in Lebensmittel und Landwirtschaft
• Künstliche Intelligenz in der Wertschöpfungskette
… und die restlichen 12
• Nachhaltigkeit in der Lebensmittelbranche
• Wachstumsparadigma im Wandel
• Lebensmittelsicherheit und -schutz
• Ressourcenverfügbarkeit: Land, Wasser, Energie
• Lebensmittelverluste und -verschwendung
• Qualität und Quantität der Labels
• Verpackung von Lebensmitteln
• Online-Lebensmitteleinkauf
• Eigentum an den Daten
• Machtgleichgewicht innerhalb der Wertschöpfungskette
• Die Einstellung der Gesellschaft zu neuen Technologien
• Plattformen und "Product as a service" im Lebensmittelsektor
Prof. Dr. Michael Gänzle
Der Staat als Lenker
Verstaatlichung und Gemeinwohl sind Schlüsselworte des ersten Szenarios. Dieses setzt auf einen starken Staat als Dirigent des Lebensmittelsektors, der mit Gesetzen und Steuern einerseits die Ernährungssicherheit der einzelnen Nationen gewährleistet und anderseits die Nachhaltigkeit durchsetzt. Als Eigentümer und Nutzer landwirtschaftlicher Flächen wird der Staat selbst zum Produzenten. Und er besitzt die Hoheit über die Daten. Damit kontrolliert und sanktioniert er nicht nur Lebensmittelverschwendung, er kann auch in die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung lenkend eingreifen. Während Labels in dieser Zukunft keine große Rolle mehr spielen, hängen Innovationen davon ab, ob sie den Zielen des lenkenden Staates nutzen. Reibungspunkte sehen die Autoren vor allem auf internationaler Ebene, da die landwirtschaftlich relevanten Ressourcen nicht gleichmäßig verteilt sind und ein starker Fokus auf nationale Selbstversorgung den globalen Handel hemmt. Außerdem sehen sie in diesem Szenario privatwirtschaftliches Engagement durch die überbordenden Regulierungen stark gehemmt.
Die Postwachstumsgesellschaft
Intrinsische Nachhaltigkeit und Postwachstumsgesellschaft charakterisieren das zweite Szenario. Hier gehen die Veränderungen von den Konsumenten aus. Diese, so haben die Studienautoren angenommen, würden die Notwendigkeit gesunder, nachhaltiger und regionaler Lebensmittelkreisläufe erkennen und aus tiefer Überzeugung fordern. Der Sektor würde sich diesem Druck beugen. Als Konsequenz würden auch in diesem Szenario die Ressourcen effizienter genutzt und das Food Waste Problem gelöst. Aufgrund des allgemeinen Interesses am Thema hätten auch neue Technologien wie datengetriebene Prozesse und künstliche Intelligenz aber auch alternative Proteine oder Urban Farming leichtes Spiel. Das durch den Fokus auf Regionalität eingegrenzte Sortiment und die höheren Preise würden nicht als Nachteil angesehen, sondern als notwendig akzeptiert.
Internationale Handelskonzerne
Effizienz und grenzenloses Wachstum stehen hingegen im Mittelpunkt des dritten Szenarios. Diese Zukunft wird von internationalen Handelskonzernen gelenkt. Als Herren über die Daten platzieren sie die Produkte individuell zugeschnitten. Von Erzeugern und Verarbeitern wird höchste Effizienz verlangt. Gewinnmaximierung geht vor Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Diese Themen werden nicht komplett negiert, nicht selten aber aus Marketinggründen verfolgt. In diesem Szenario gehen die Studienautoren davon aus, dass nicht der gesellschaftliche Wandel die beschriebenen Probleme wie Ernährungssicherheit, Lebensmittelverschwendung oder Klimawandel angeht, sondern der technologische Fortschritt. Als einen großen Nachteil sehen sie hier das Thema Lebensmittelsicherheit. Denn diese könnte ihrer Meinung nach besonders auf internationaler Ebene unter dem immensen Preisdruck leiden. Eingeschränkte Sortimente und hohe Preise sind aufgrund der Globalisierung in diesem Szenario hingegen kein Problem.
Welchen Weg der Food-Sektor bis 2035 einschlagen wird, können die Forscher also nicht sagen. Und auch als Handlungsempfehlung, die es eins zu eins umzusetzen gilt, wollen sie ihr Werk nicht verstanden wissen. Vielmehr geht es ihnen darum, zu zeigen, wohin der Weg führen kann und welche Schritte dabei alles eine Rolle spielen können.