Köln: 23.–26.02.2027 #AnugaFoodTec2027

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Im Portrait: Thünen-Forschende untersuchen die Ursachen für Lebensmittelverluste und Abfälle

Welche Gründe gibt es für Lebensmittelverluste an den verschiedenen Stellen der Produkti-ons- und Verbrauchskette? Vom Thünen-Institut wird dies interdisziplinär untersucht. Zwei Online-Konferenzen im September gaben jetzt Einblick in die Ergebnisse der laufenden Ar-beiten. Im Fokus der beiden Veranstaltungen mit insgesamt 168 Teilnehmenden aus Wirt-schaft, Wissenschaft und den Verbänden standen unter anderem, wie sich mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und der Weitervermarktung von Nebenprodukten und Überschüs-sen die Ressourceneffizienz in den Sektoren am Anfang der Lebensmittelversorgungskette optimieren lässt.

Für Erzeuger sind Waren, die wegen optischer Makel oder wegen einer veränderten Qualität aussortiert werden müssen, noch immer ein großes Problem. (Foto: © Mareike Bähnisch)

Für Erzeuger sind Waren, die wegen optischer Makel oder wegen einer veränderten Qualität aussortiert werden müssen, noch immer ein großes Problem. (Foto: © Mareike Bähnisch)

Lebensmittelverluste effizient reduzieren

Entlang der Wertschöpfungskette entstehen Lebensmittelabfälle und -verluste. Der aktuellen Erhebung vom Statistischen Bundesamt zufolge waren es im Jahr 2020 rund elf Millionen Tonnen. Davon fallen entsorgungsseitig mit 1,6 Millionen Tonnen etwa 15 Prozent in der Ver-arbeitung und mit 0,2 Millionen Tonnen zwei Prozent in der Primärproduktion an. Ziel der Ver-einten Nationen ist es, bis 2030 Lebensmittelabfälle und -verluste weltweit über alle Sektoren der Wertschöpfungskette – von der Landwirtschaft bis hin zum Verbraucher – zu reduzieren und auf Handels- und Konsumebene zu halbieren. Auch Deutschland hat sich dazu verpflich-tet und im Februar 2019 die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelver-schwendung gestartet.

Zu ihrer Umsetzung hat die Bundesregierung fünf Dialogforen für alle Schritte der Lebensmit-telversorgungskette ins Leben gerufen. Ihr Auftrag: Maßnahmen festlegen, die Verluste deut-lich reduzieren. Im Mittelpunkt der beiden Online-Konferenzen im September 2022 standen Ergebnisse aus den laufenden Arbeiten der beiden Dialogforen Primärproduktion und Verar-beitung, koordiniert von der DLG (Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft) und dem Thünen-Institut. Letzteres zählt 15 Fachinstitute. Als Bundesforschungseinrichtung im Geschäftsbe-reich des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat es den Auftrag, wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungen zu erarbeiten und durch For-schung den Wissensstand zum Wohl der Gesellschaft zu erweitern. Innerhalb der Dialogforen untersucht das in Braunschweig ansässige Thünen-Institut für Marktanalyse, wo die Verluste und Abfälle in der Primärproduktion und Verarbeitung von Lebensmitteln entstehen.

Die Forschenden wollen dabei nicht nur die Stoffströme, die der Lebensmittelversorgungsket-te entzogen werden, quantifizieren und die Datenlage auf den neusten Stand bringen, sondern auch die Ursachen für Verluste und Abfälle ermitteln. „Gleichzeitig können wir durch unsere Analyse Reduzierungs- und Optimierungspotenziale identifizieren und Maßnahmen für Unter-nehmen und die Politik aufzeigen“, erläuterte Manuela Kuntscher im Dialogforum Primärpro-duktion.

Die zentrale Rolle zu hoher Qualitätsstandards

Die Thünen-Forscherin stellte die Ergebnisse der jüngsten Online-Branchen-Befragung vor, an der 460 deutsche Primärproduzent:innen teilnahmen. Zu den zentralen Erkenntnissen zählt: Im Primärbereich planen und setzen die befragten Betriebe bereits Maßnahmen in un-terschiedlichen Bereichen um. Überschüsse werden zum Beispiel im eigenen Betrieb veredelt oder über spezialisierte Plattformen vermarktet, statt sie als Abfall zu entsorgen. Dadurch entstehen Potenziale für die Betriebe, die alternative Verwendung außerhalb der Lebensmit-telkette zu verringern, die laut der Ergebnisse des Thünen-Instituts 22 Prozent der produzier-ten Lebensmittel in der Primärproduktion ausmachen.

Wenn es zu Verlusten und Abfällen kommt, dann vor allem durch das Konsumverhalten und gesetzliche Vorgaben sowie zu hohe Qualitätsstandards auf der Abnehmerseite. Letzteres tritt gemäß der Antworten „sehr häufig“ (7 Prozent), „häufig“ (11 Prozent) oder „gelegentlich“ (13 Prozent) auf. Auch für Ernte- und Vorernteverluste ist dies neben Witterungseinflüssen und weiteren Faktoren ein wesentlicher Aspekt. „Für die Betriebe spielt der Lebensmittelhandel mit seinen Anforderungen eine zentrale Rolle“, so Kuntscher. „Viele von ihnen wünschen sich Unterstützung durch die Politik bei diesem Thema sowie eine Sensibilisierung der Konsu-ment:innen.“

Spielräume für das optisch nicht Perfekte

Das Zepter in die Hand nehmen und die Vermarktung selbst gestalten – ein Betrieb, der die-sen Weg bereits mit Erfolg geht, ist der von Dr. Ralf Schaab, Obst- und Gemüseerzeuger aus Wiesbaden. Unter der Marke "Landmarkt" liefert der Hof einen Teil seiner Produkte aus eige-ner landwirtschaftlicher Herstellung direkt an Rewe-Märkte in seiner Region. Das Besondere am Konzept, welches Schaab beim Dialogforum Primärproduktion vorstellte: Der Landwirt trifft mit den einzelnen Märkten individuelle Vereinbarungen. Dabei überlässt der Lebensmitte-leinzelhändler die Preisgestaltung dem Erzeuger. „Damit haben wir die Möglichkeit, einen empfohlenen Richtpreis vorzuschlagen“, sagte Schaab. Die Belieferungshäufigkeiten richten sich dabei nach Sortiment und Nachfrage in den Märkten. „Gleichzeitig kümmern wir uns selbst um die Bestellungen und darum, dass unsere Produkte im Regal wieder aufgefüllt wer-den.“ Auch Waren der Handelsklasse II kann Schaab über das Landmarkt-Konzept bei Rewe verkaufen, beispielsweise Äpfel mit einem kleinen Schorffleck.

Derartige Waren, die aufgrund optischer Makel oder wegen einer veränderten Qualität vom Handel nicht akzeptiert werden, stellen Erzeuger noch immer vor Probleme. „Das gilt insbe-sondere bei Waren mit handelsbezogener Verpackung und Produkten mit eingeschränkter Haltbarkeit, die sich nicht ohne Weiteres weitervermarkten lassen“, erläuterte die Vorsitzende des Fachzentrums Lebensmittel, Prof. Dr. Katharina Riehn, im Dialogforum Primärprodukti-on, die als Moderatorin durch die Veranstaltung führte.

Wie sich optisch nicht perfektes Obst und Gemüse noch in den Verkauf bringen lässt, de-monstrierte bei der Veranstaltung Jonathan Sehl, Gründer des Start-ups a.ware regional. Im Rahmen eines Projektes sammelte er aussortiertes Gemüse von landwirtschaftlichen Bio-Höfen, um es in 2,5 Kilogramm-Tüten zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen. „Die Akzep-tanz der Verbraucher von Gemüsen mit kleinen Makeln ist sehr groß“, so Sehl. Schönheits-fehler seien eine Frage der Kommunikation. „Klärt man die Verbraucher auf und sagt ihnen, dass Erzeuger viele Lebensmittel nur aufgrund hoher Ansprüche der Abnehmer aussortieren, werden auch B-Waren gut angenommen.“

Von den Kosten bis zum Nutzen

Welche Mengen werden eingespart und wie nachhaltig sind die Maßnahmen in den Demonst-rationsbetrieben? Am Thünen-Institut wird dies von Dr. Yanne Goossens ausgewertet. Auch für das Start-up a.ware regional führte die Wissenschaftlerin eine quantitative Bewertung der Ressourceneffizienz über eine Kosten-Nutzen-Analyse durch, die sowohl den ökonomischen als auch ökologischen und sozialen Nutzen jeder Maßnahme miteinbezieht. Auf diese Weise kann Goossens nicht nur die Erlöse, CO2-Einsparungen oder den sozialen Nutzen bemessen, sondern auch alle Kosten und Optimierungspotenziale sichtbar machen. „Pro investierten Euro konnte das Start-up bereits zum Zeitpunkt der Gründung 430 Gramm Lebensmittelab-fälle retten und 130 Gramm CO2 vermeiden“, erklärte Goossens.

Das Projekt von Jonathan Sehl ist ein Beispiel dafür, wie gezielte Maßnahmen dabei helfen, Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Ein weiteres kommt aus der Fleischverarbeitung: die Her-stellung von Wiener Würstchen und Bockwürstchen auf Basis von „geretteter“ Ware. Einbli-cke in die Auswertung erhielten die Teilnehmenden beim Dialogforum Verarbeitung. „Momen-tan ist Rework bei Würstchen in dieser Qualitätsklasse nicht statthaft“, so Goossens. „Es han-delt sich hier um eine experimentelle Maßnahme eines Betriebes, um neue Möglichkeiten auszuloten.“

Statt die Bruchware zu entsorgen, entfernt eine eigens entwickelte Schälmaschine die Darm-haut, sodass eine Rückführung der Rohware in die Produktion möglich ist. Innerhalb von ei-nem Jahr würden dem Betrieb auf diese Weise 97 Tonnen weniger Lebensmittelabfälle ent-stehen, wenn denn der nötige Rahmen hierfür geschaffen würde. „Das entspricht mehr als 1.200 Schweinen und fast 4.000 Tonnen CO2, die an dieser Stelle eingespart werden könn-ten“, so die Wissenschaftlerin.

Mit KI gegen Überproduktion und Ausschuss

Bei der Reduzierung von Lebensmittelabfällen und -verlusten in der Verarbeitung besteht die Herausforderung nicht zuletzt darin, Produzenten neue Technologien bereitzustellen, die für mehr Effizienz im Sinne der Nachhaltigkeit beim Umgang mit natürlichen Ressourcen sor-gen. Für den IT-Experten Dirk Mayer ist klar: „Die konventionellen Technologien stoßen hier an ihre Grenzen“, wie der Senior Director Research der Software AG in seinem Vortrag be-tonte. Das Unternehmen ist einer der Partner im REIF-Projekt (Resource-Efficient, Economic and Intelligent Foodchain), das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ge-fördert wird. Im Fokus dieses Vorhabens steht der Einsatz von KI in der Molkerei-, Fleisch- und Backwarenindustrie, um Lebensmittelabfälle und -verluste zu vermeiden. Um diese in den genannten Bereichen deutlich zu senken, seien vor allem zwei Aspekte entscheidend – „die Minimierung von Überproduktion und die Vermeidung von Ausschuss“, so Mayer. Intelli-gente Sensorik, Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz sollen die Produzenten dabei in Zukunft in vielen Prozessen unterstützen.

Produktionsverfahren, die kurzfristig sowohl auf schwankende Konsumentennachfrage als auch auf unterschiedliche Rohstoffqualitäten reagieren können, sind dabei Schwerpunkte, wie Mayer an Beispielen aus der Backwaren- und Fleischindustrie verdeutlichte. Ausschuss entsteht hier etwa beim Hochfahren der Anlagen, da die optimalen Parameter erst erreicht werden müssen. „Nach aktueller Schätzung können wir die Verluste an dieser Stelle durch eine KI-gesteuerte Prozesssteuerung um 90 Prozent reduzieren“, so Meyer. Was die künftige Umsetzung automatisierter und vernetzter Prozesse in der Praxis betrifft, brauche es zudem einen optimierten Daten- und Informationsaustausch über alle Wertschöpfungsstufen hinweg. Weitere Arbeiten im Projekt umfassen daher die Entwicklung einer digitalen Plattform auf Basis von Blockchain-Technologie. Ziel ist es, einen zentralen Marktplatz für KI-Services zu schaffen, um Anwender und Anbieter miteinander zu vernetzen.

Weitere Informationen und Kontakt

Thünen-Institut für Marktanalyse, Braunschweig
Dr. Thomas Schmidt
Tel. +49 531 596 5314
thomas.schmidt@thuenen.de
www.thuenen.de/de/fachinstitute/marktanalyse